Intelligenz – Fluch oder Segen?
Mit dem, was mir an kognitiver Leistungsfähigkeit mit auf den Weg gegeben wurde, bin ich ganz zufrieden. Zumindest reichte sie, um mir in Schule und Uni trotz einer gewissen Faulheit akzeptable Noten bei geringem Lernaufwand zu ermöglichen. Doch ich wollte mehr. Ich wollte alles verstehen und alles erklären können. So mutierten Intellektualität und Bildung mit der Zeit zum höchsten Gut für mich. Umso härter traf mich später die Erkenntnis: Intelligenz wird maßlos überschätzt!
Bis dahin senkte ich jedoch ehrfürchtig mein Haupt vor den großen Gelehrten dieser Welt und jenen, die selbige mit Leichtigkeit zitierten. Meine Wert-Schätzung eines Menschen wuchs proportional mit der Anzahl an Büchern, die er gelesen – und auch verstanden – hatte. Gleichzeitig richtete ich meine Geringschätzung auf diejenigen, die »nicht mal« einen Hochschulabschluss hatten. Schon als Kind hatte ich nicht den geringsten Zweifel: ich würde einmal studieren. Inzwischen fragt mich niemand mehr nach meinen Noten, und meine akademischen Kenntnisse nutze ich nur noch in Randbereichen.
Damals war Wissenschaft meine Religion. Mein Glaube bestand darin, dass ich das ganze Universum erklären könnte, sobald ich nur genug Wissen angesammelt hätte. Mein Dogma lautete: Was man nicht wissenschaftlich erklären kann, gibt’s auch nicht. Meine Heiligen waren brillante Denker und eloquente Intellektuelle. Nur Gott hatte in meiner Welt keinen Raum. Heute bin ich mir nicht mehr ganz so sicher, ob Gott mir wirklich einen Gefallen tun wollte, als er mich mit Intellekt ausstattete.
Fluch in Beziehungen
Es stellte sich nämlich heraus, dass mein Verstand in den für mich wirklich wichtigen Bereichen meines Lebens – und zwar in Beziehungen mit anderen und mit mir selbst – mir nicht nur kaum von Nutzen war, sondern sogar Teil des Problems. Ein Beispiel: Insgeheim stolz über meine Fähigkeit, meine damalige, mir rhetorisch kaum gewachsene Ehefrau argumentativ niederknüppeln zu können, entging mir gleichzeitig völlig, wie ich mich dadurch immer mehr von ihr distanzierte und zu einem schleichenden Beziehungstod beitrug. Die zunehmende Distanz vergrößerte natürlich die Probleme, denen mein Verstand wiederum mit noch schlagkräftigerer Logik zu entgegnen suchte – ein Teufelskreis. Leider hatte niemand Erbarmen und erklärte mir, dass Probleme, die der Verstand erzeugt, sich nun mal nicht mit dem Verstand lösen lassen.
Warum ich nicht selbst darauf gekommen bin? Wie auch die Religion, der ich ohne es zu ahnen (und zuzugeben bereit gewesen wäre) angehörte, stellen Religionen geschlossene Systeme dar, die aus vom Verstand erzeugten Glaubenssätzen, Überzeugungen und Meinungen aufgebaut sind. Solche Systeme versuchen im Interesse der Selbsterhaltung Eindringlinge zu vernichten, wobei jeder »erfolgreich« abgewehrte Angriff zur weiteren Erstarrung des Systems beiträgt. Und so sollte meine daraus resultierende Lernresistenz noch einige Jahre lang verhindern, dass ich mein vom Denken geprägtes Weltbild ernsthaft in Frage stelle. Glücklicherweise sorgte der wachsende Leidensdruck dafür, dass mein System schließlich doch bröckelte.
Doof aber glücklich?
Ich suchte mir Lehrer und lernte, dass das Denken zu schweigen hat, wenn Fühlen angesagt ist. Mein Lernprozess ist eine ganz andere Geschichte, hier sei nur angemerkt, dass ich meinen Intellekt und mein Denken als das größte Hindernis auf dem Weg zu einem friedvolleren Leben erlebt habe. In Gefühlsdingen erwies er sich jedenfalls stets als kontrollsüchtige und nörgelnde Instanz, die ohne stichhaltige Beweise für deren Nutzen jede echte Veränderung zu verhindern sucht.
Manchmal blicke ich neidisch auf die unbeschwerte Lebensfreude, die viele Menschen mit Down-Syndrom ausstrahlen. Und mal Hand aufs Herz: wieviele wirklich, wirklich glückliche Menschen kennen Sie? Liegt da nicht der Schluss nahe, dass Intellekt und Glück sich gegenseitig ausschließen? Wer war nicht berührt von Forrest Gump, dem Archetypus des Narren, der sich mit kindlicher Neugier sorgenfrei durchs Leben treiben lässt? Er braucht keine Meditation, um erleuchtet zu werden, er ist es schon, auch wenn er nichts davon weiß – oder vielleicht gerade weil er nichts davon weiß. Jederzeit präsent, weiß er stets, was zu tun ist, damit alles perfekt an seinen Platz fällt, ohne sich dabei durch sein Denken zu behindern.
Verstand als Werkzeug
Bevor Sie jetzt zum Neurochirurgen laufen, um sich einer Lobotomie zu unterziehen – nein, dies ist kein Plädoyer für Dummheit. Ich plädiere lediglich dafür, wieder unterscheiden zu lernen, wozu unser Verstand gut ist, und wozu eben nicht. Als Werkzeug ist er nämlich prima zu gebrauchen, als Produzent von Gedanken und Konzepten, mit denen wir uns dann identifizieren, ist er hingegen nur hinderlich.
Zum Beispiel ist er mir gerade sehr dienlich dabei, diesen Artikel zu schreiben, und ganz allgemein kann er ein wertvolles Werkzeug beim kreativen Ausdruck sein. Auch bei der Auswahl meines Essens oder dem Lesen des Stadtplans leistet er mir gute Dienste. Vorsicht ist jedoch geboten, wenn Gefühle im Spiel sind. Dann beginnt der Verstand gerne, sich Sorgen um die Zukunft zu machen oder mit der Vergangenheit zu hadern. Oder er stellt Behauptungen darüber auf, was wir alles noch brauchen, bevor wir glücklich sein können und analysiert Beziehungsprobleme, die er selbst geschaffen hat.
Es fällt auf, dass wir wir mit unserer Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Moment sein müssen, um uns unseres Verstandes zu bedienen. Ergreift umgekehrt unser Denken Besitz von uns befinden wir uns in der Vergangenheit oder in der Zukunft. Dann sind wir nicht jetzt und hier. Genau genommen erzeugt das Denken überhaupt erst die Illusion von Zeit – aber das ist Stoff für einen der folgenden Artikel. Intelligenz jedenfalls ist ein klebriges Ding, das diesen Effekt des Abdriftens aus der Präsenz begünstigt. Da können wir uns noch viel bei Forrest Gump abgucken.
Ich bin jedenfalls froh, dass ich ein geheilter Intellektueller bin – von gelegentlichen Rückfällen einmal abgesehen.
© 2011 Björn Klug