Missverstandene Meinungsfreiheit
Eine Beobachtung des Kabarettisten Dieter Nuhr hat weite Kreise gezogen (leider meist nur der letzte Satz):
Das ist so schrecklich, dass heute jeder Idiot zu allem eine Meinung hat. Ich glaube, das ist damals mit der Demokratie falsch verstanden worden: Man darf in der Demokratie eine Meinung haben, man muss nicht. Es wäre ganz wichtig, dass sich das mal rumspricht: Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal Fresse halten.
Auch wenn sich der Ausspruch nur auf die Äußerung unqualifizierter Meinungen bezieht, lässt die breite Resonanz erahnen, dass mit dem Prinzip Meinung etwas Grundlegendes nicht stimmt. Und tatsächlich: Meinungen tragen nicht nur nicht zu unserer Freiheit bei, sondern schränken diese sogar ein.
Meinungen trennen Menschen
»Bullshit!« sagen Sie? Warten Sie’s ab. Sehen wir uns zunächst einmal das Wort an: Mein-ung. Da mache ich mir also etwas zu meinem, ich ergreife Besitz davon, ich mache mir eine Behauptung zu eigen. Und wenn es meins ist, dann kann es nicht mehr Ihres sein. Mit meiner Meinung grenze ich mich also von Ihnen ab. »Aber wir können die Meinung doch teilen!« meinen Sie? OK, dann grenzen wir uns eben gemeinsam von den anderen ab, die unsere Meinung nicht teilen wollen. Tatsache bleibt: Meinungen trennen Menschen, spätestens, wenn sie sich nicht mehr auf eine Konsensrealität einigen können.
Sie haben außerdem die Eigenart, sich zu Überzeugungen zu verhärten, durch eine Identifikation mit dem jeweiligen Konzept oder der Vorstellung. Wenn das geschieht, dann verinnerliche ich sozusagen die Meinung und mache sie zu einem Teil von mir selbst (was natürlich eine Illusion ist). Jemanden, der meine Überzeugung nicht teilt, werde ich dann als Feind behandeln, da ich seine Kritik als Angriff auf meine Person und nicht auf das Konzept werte. Mit wachsender Anzahl meiner Meinungen (die ich zu meinem »Ich« hinzufüge) verringere ich so meine Freiheit und verstärke die Abgrenzung von meiner Umwelt.
Warum sind Meinungen und Überzeugungen dann so beliebt, wenn es sich ohne sie doch so viel leichter lebte? Nun, wir erschaffen sie, um uns die Illusion von Kontrolle in einer unkontrollierbaren Welt zu verschaffen. Um diese scheinbare Kontrolle aufrecht zu erhalten, müssen wir allerdings ständig andere von unserem Weltbild überzeugen, was in Missionierungseifer münden kann. Dummerweise funktioniert Missionierung niemals und kostet unglaublich viel Energie, die wir viel besser für unseren kreativen Ausdruck verwenden könnten.
Mythos Meinungsfreiheit
Nein, keine Sorge, mir liegt nicht daran, an einem Grundpfeiler unserer Demokratie zu rütteln, aber da scheint wirklich etwas falsch verstanden worden zu sein. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass jene, die am lautesten nach Meinungsfreiheit schreien, nur selten die Freiheit der anderen meinen?
Besonders solche Menschen sehen nicht, dass Meinungen immer bestreitbar sind und selten einen Bezug zur Wahrheit haben. Über »Altbier schmeckt eklig!« (Meinung) beispielsweise kann man sich stundenlang die Köpfe heiß reden, doch versuchen Sie das mal mit »Ich trinke lieber Kölsch.« (unbestreitbare Wahrheit). Womit wir schon bei der Alternative zu Meinungen wären – der unbestreitbaren Wahrheit. Statt mir ein Bild davon zu machen, wie die Welt zu sein hat, kann ich mir in jedem Moment meines Lebens bewusst machen, was ich wirklich will, und mich dafür engagieren – in der Freiheit, mich schon im nächsten Moment umzuentscheiden. Um beim Beispiel zu bleiben: Ich genieße mein Kölsch und freue mich mit den vielen Menschen, die das Gleiche mit ihrem Alt tun. Und morgen versuche ich vielleicht auch mal ein Alt.
Meinungsfrei leben
Ja, Meinungsfreiheit finde ich Klasse. Und so habe ich mich auf Meinungsdiät gesetzt, um mich von all den nutzlosen Meinungen zu befreien, die ich noch mit mir herumschleppe, und mir möglichst keine neuen aufzubürden. Was andere Menschen angeht, so lasse ich ihnen gerne ihre Meinungen – ich erachte sie lediglich nicht als Wert, wohl wissend, dass Meinungen unfrei machen. Wenn ich beispielsweise jemanden um Feedback zu meiner Arbeit bitte, frage ich ihn nicht nach seiner Meinung, da ich nicht an seiner – bestreitbaren – Bewertung interessiert bin, sondern an seiner – unbestreitbaren – Wahrnehmung, seiner Erfahrung und seiner Resonanz.
Möchte ich anderen meine Sicht der Welt vermitteln, ziehe ich es vor, statt »Meinung« das Wort »Ansicht« zu verwenden, um klarzustellen, dass es sich um eine Sicht durch meine Augen handelt. Gleichzeitig bin ich mir dessen bewusst, dass die Augen eines anderen, von einem anderem Standpunkt aus, die Welt selbstverständlich ganz anders sehen kann.
Überzeugende Argumente, meinen Sie nicht? 😉
© 2011 Björn Klug